„Sie kommen aus München.“ Keine Frage, eine Feststellung. Und doch spürte man bei dem älteren Herrn die Fassungslosigkeit, uns hier in Templin anzutreffen, als wir gerade unseren Wagen abstellen wollen, um an der Fünf-Seen-Tour teilzunehmen, was außer uns nur noch fünf Personen vorhatten.
„Was wollen Sie hier, wo es doch mein Traum wäre, in Bayern Urlaub zu machen?“ Das hat er nicht gefragt, aber gemeint. Wir wollten uns das Land anschauen, übrigens nicht zum ersten Mal. Das Schiff hätte für 90 Gäste Platz gehabt, für eine wunderschöne, zweistündige Tour über den Templiner See, den Bruchsee, den Gleuensee, den Fährsee und den Zaarsee. Und wem dies nicht gelangt hätte, der hätte zum Lübbesee wandern oder radeln können, und immer weiter und fände die Natur in den blauen Farben des Wassers, den grünen der Wälder, in dem Ocker und Umbra der Felder. Vielleicht fände er sogar sich.
Aber es kommt so gut wie keiner, und das keine 90 Kilometer nördlich von Berlin. Es ist nicht zu verstehen.
„Wir haben uns“
Eine Spiegel-Online-Geschichte beginnt so: „Wenn man den alten Herrn Weirauch fragt, der unten an der Dorfstraße die Kaninchen füttert, was es in Haßleben Schönes gibt, dann sagt er: Meister, hier gibt es nichts, hier gibt es nur böse Stimmung, dass alles plattgemacht wurde und nichts weitergeht. Wenn man Patrick und Sophia fragt, dann antworten sie: Wir haben uns.
Patrick und Sophia sind geblieben. Sie sind geblieben, als der Rohrpfuhl verlandete, als der Jugendclub schloss und als die Bahnlinie stillgelegt wurde. Eine Zeit lang fuhr noch eine Draisine in der Saison für die Touristen. Aber es gab keine Touristen, und es gab auch keine Saison. Jetzt wachsen zwischen den Gleisen die Dolden der Wilden Möhre, und auf dem Schreibtisch des Bahnwärters liegt ein vertrockneter Rosenstrauß.“
Haßleben liegt wie Templin in der Uckermark, Brandenburgs nördlichster Ecke. Es ist zugleich mit 3058 Quadratkilometern Deutschlands größter Landkreis. Mehr als 60 Prozent davon sind Naturparks.
Nicht das suchen, was es nicht gibt
Das Land zeichnet sich in einfachen Bildern, Wasser kommt in ihnen vor, immer wieder Wasser. Dazu Alleen, unbefestigte Wege, ein paar Häuser, einige Schlösser wie Boitzenburg und Kröchlendorf. Aber es gibt zu viele Häuser die grau und verfallen sind, wie die in Haßleben. Wer sich in der Uckermark wohlfühlen will, darf nicht das suchen, was es dort nicht gibt. Er muss bewusst Ja sagen zu einigen Tagen oder Wochen mit halber Schlagzahl oder Ja zu noch weniger Tempo, Ja auch dazu, mit vertrockneten Hoffnungen konfrontiert zu werden.
Die abgelegenen Straßen dort symbolisieren genau dieses: Sie sind zur Hälfte geteert, zur Hälfte unbefestigt. Das hat einen überraschenden Effekt, die Autofahrer rasen nicht aneinander vorüber, ohne von einander Kenntnis zu nehmen, man schaut sich durch die Windschutzscheibe an, um sicher zu sein, dass auch der andere ein Stück in den Staub geht. Das schafft nicht nur Demut, es ist ein Stück Kommunikation. Dies kommt allerdings nicht zu oft vor. Häufiger kann man am See liegen und seinen Nachbarn fragen: „Hörst Du das Geräusch?“ Und dann war es ein Auto oder ein Erntegerät auf den endlosen Feldern, das die Ruhe störte.
Es gibt auch positive Zeichen
Aber trotz des Stillstandes der wirtschaftlichen Entwicklung, trotz der fortschreitenden Abwanderung, es gibt doch positive Zeichen. Wir haben Restaurants besucht, die mit dem Qualitätssiegel „Brandenburger Gastlichkeit“ um Gäste werben dürfen, darunter die „Kleine Seglerresidenz“ im Templiner Seglerclub. Sie sind empfehlenswert, wenn wir auch den besten Fisch ein paar Meter weiter fanden in der „Fischerhütte Zum Hecht“ in Carwitz und dem „Mecklenburger Fischstübchen“ in Feldberg, beide schon im benachbarten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern.
Besteht im gastronomischen Bereich noch Platz nach oben, ist der Bestand an Fahrrädern vorbildlich. Und der Verleih-Service erschließt das ganze Land. Wir haben den Service von Randow-Rad in Anspruch genommen und zum Einfahren die Strecke zum Schloss Boitzenburg gewählt. Boitzenburg ist eine prunkvolle Anlage aus der Renaissance, die Kindern und Familien vorbehalten ist, übernachten kann man dort nicht, aber Feste feiern in prächtigem Rahmen. Die Fahrrad-Wege waren gut ausgeschildert, einige allerdings so sandig, so dass man schieben musste.
Auf gut Glück gastronomische Erlebnisse zu suchen, ist nach wie vor ein riskantes Unterfangen, Bewusstsein für Qualität und Angebote mit Raffinesse entwickeln sich nur langsam. Aber es gibt sie durchaus, man muss nach ihnen fragen oder die Informationen der Fremdenverkehrsämter durcharbeiten. Dann lernt man nebenher, dass eine Nudl eine Kartoffel ist, man stößt auf den Wruckeneintopf, Uckerkaas, Karpfen in Biersoße oder Klüt und Beer´n. Eine Klasse für sich ist das in Prenzlau gebackene Brot oder der uckermärkische Kräuterkranz aus Groß Kölpin.
Die Ortsbezeichnungen sind oft verwirrend, weil etwa auch Groß Kölpin nur ein kleines Nest ist. Und wie man weiß, hasst nicht jeder, in Haßleben zu leben. Und es gibt keine Landmarken, die man zur Orientierung nutzen könnte, kein Meer, keine Berge. Beschreibt man die Uckermark als zwischen Prenzlau im Norden, Lychen im Westen, Angermünde im Süden und Schwedt im Osten liegend, sagt das den wenigsten etwas.
Lychen könnte so schön sein, wenn…
Dabei könnte das mittelalterliche Lychen mit seinen sieben Seen, die den Ort fast als eine Insel erscheinen lassen, eine der schönsten Städte Deutschlands sein. Aber die Billigläden rund um das Rathaus nehmen den Charme und die Sympathie, die die Promenade, alte Gassen und Kirchen entstehen lassen. Aber diese Läden sind ja nicht zufällig hier.
In der Nähe fanden wir auch unseren Lieblingsort, Carwitz, am gleichnamigen See. Ob es daran liegt, dass Hans Fallada hier gelebt hat, ist schwer zu sagen, aber Häuser, Straßen und Publikum sind anders als in Lychen, sie sind eleganter und gepflegter. Man kann es getrost ein romantisches Kleinod nennen. Genau genommen gehört Carwitz zu Feldberg, und das liegt bereits in Mecklenburg, aber da die Seen, die Wälder und Felder keine Landesgrenzen kennen, spielt das keine Rolle.
Das Land der 500 Seen
Alles hängt zusammen, ist landschaftlich eins. Von Templin aus könnte man mit dem Boot zur Havel, zur Ostsee oder nach Berlin fahren. Es gibt eigens dafür Hausboote, die aussehen wie Gartenhäuschen auf schwimmfähigem Untersatz. Man kann sich allerdings auch mit den 500 Seen der Uckermark zufrieden geben, einfach nur schippern, sich treiben lassen, Kraniche, Störche, bei Glück Seeadler beobachten, der Sonne beim Untergehen zusehen und staunen, welche Farben sie dabei dem Wasser entlocken kann. Man kann durch den Buchwald von Grumsin laufen, der im Juni 2011 von der UNESCO als Weltnaturerbe anerkannt wurde. Er ist als größtes Naturentwicklungsgebiet des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin seit 1990 nutzungsfrei.
Die Arten der Fortbewegung sind vielfältig und eigentlich egal. Es muss nur langsam sein. Von Templin bis nach Fürstenberg an der Havel kann man eine Draisine nehmen, an geraden Tagen in die eine Richtung, an ungeraden in die andere. Wäre auf der stillgelegten, 28,5 Kilometer langen Strecke, jemand zu schnell oder käme gar unerlaubt entgegen, müsste man das Fahrzeug aus den Schienen heben und den Überholer oder Entgegenkommenden passieren lassen. Oder dieser lupft sein Schienenfahrrad. Das hängt vom Ergebnis der Kommunikation ab, wie auf den halbgeteerten Straßen. In der Draisinen-Oase in Alt-Pracht haben wir gelernt, dass sich ein eigenes Völkchen dem Reiz der stillgelegten Bahnstrecke hingibt, Hängematten und Flaschenbier sind die wichtigsten Attribute inmitten von Gerümpel neben einem Bahnwärterhäuschen, das sonst niemand mehr braucht.
1000 Kilometer Wanderwege
Noch langsamer geht es beim Wandern zu. Es gibt mehr als 1000 Kilometer ausgewiesene Wanderwege. Da gibt es den Wolletzseerundweg, den Woblitzrundweg, den Stübnitzrundweg, und weil ohnehin nur Eingeweihte damit etwas anfangen können, hat man sich schließlich mit einer Aufzählung zufrieden gegeben: Das sind die Märkischen Landwege 1 bis 10.
Man könnte lange Ferien hier mit Wandern zubringen. Oder mit Fahrrad fahren. Es gibt große Radwege wie den Oder-Neiße-Radweg, vor allem aber viele kleine und namenlose, weil es nicht auf die „gemachten“ Kilometer ankommt.
Einige Marketing-Strategen nennen die Uckermark die „Toskana“ des Nordens. Das ist völliger Unsinn. Der Stolper Turm, „Grützpott“ genannt, ist auch nicht so schief wie der von Pisa. Die Uckermark ist die Uckermark. So wie Bayern Bayern ist, und wenn einer mit dem Nummernschild UM durch München fährt, heißt das (hoffentlich) nicht, dass nun auch Patrick und Sophia ihrem Dorf Haßleben und der Uckermark den Rücken gekehrt haben.
Informationen: info@tourismus-uckermark.de; www.tourismus-uckermark.de
Fotos: Hans-Herbert Holzamer